Wir wissen es noch nicht, aber als wir aus Kyrgyzstan über den Irkeshtam-Pass an die chinesische Grenze fahren, stehen wir an der Grenze zweier brutal unterschiedlicher Kulturen. Die chinesische Grenzregion ist zum Beispiel die erste, die wir nicht mit dem Fahrrad bereisen dürfen. Wir werden mit einem Taxi 140 km ins Landesinnere mitgenommen, wo ein großes Grenzterminal die Immigration regelt.

Welcome to China – im Taxi.

Auch die Kontrollen ändern sich: bis wir offiziell eingereist sind, wird unser Gepäck zweimal und unser Pass viermal kontrolliert. Kontrolliert heißt hier aber, dass wir all unsere Taschen komplett ausleeren und den Beamten jedes Teil einzeln erklären müssen. Auch Jonas Handy wird durchsucht: jedes einzelne Bild wird betrachtet und Screenshots aus WhatsApp-Verläufen sowie ein Foto eines Zeitungsberichts werden auf chinesisch übersetzt. Als die Beamten ein Bild von Sina mit Kopftuch entdecken, müssen wir erklären, was es damit auf sich hat. Allgemein wird die Absicht unseres Besuchs mit zahllosen Fragen ergründet. Nicht, dass wir kritische Fragen nicht gewohnt wären: Im Iran und in Turkmenistan wollten Grenzbeamte auch des Öfteren unseren genauen Reiseverlauf wissen oder unsere Kamera nach verdächtigen Bildern durchsuchen. Aber in einer solchen Systematik und Konsequenz wie bei den Grenzbeamten Xinjiangs ist es uns noch nicht untergekommen. Obwohl wir uns bereits für unsere Visabeantragung vor der Regierung quasi nackig gemacht haben (Beruf der Eltern, genauer Reiseverlauf mit Buchungsbestätigungen von Flügen und Hotels, bisherige bereiste Länder,…) wollen die Beamten an der Grenze alles nochmal genau wissen: Die WeChat-ID unseres chinesischen Freundes, wo wir schonmal in China waren, wo wir in Xinjiang hinwollen, warum wir Kaschgar besuchen und was wir dort anschauen wollen. Als Jonas bei der Befragung etwas geistesabwesend als Studienrichtung „Jura“ (wahrheitsgemäß, aber überflüssig) angibt, kommt es zu Problemen: Die Beamten wollen wissen, welche Richtung Jura wir studieren. Wir rudern zurück und versuchen zu erklären, dass wir die Reise nur als Flitterwochen machen und dass wir eigentlich von Beruf Chemieingenieur und Lehrerin sind. Nach einer halben Stunde Befragung sagen wir dann schließlich, dass wir nur nach Kaschgar wollen, um den Zug nach Xi’an zu nehmen. Das stimmt die neugierigen Beamten dann endlich zufrieden und wir dürfen einreisen.

Ein weiterer Unterschied, den wir nach der Einreise zu spüren bekommen, ist das Fehlen von Visa-Geldautomaten, was am ersten Tag zu einer verzweifelten Suche nach Bargeld führt – wir finden keinen Automaten, der unsere Karte annimmt und auch niemanden, der unsere Dollar wechseln will. Vollkommen ohne Geld schnorren wir um Wasser und hoffen, dass wir am nächsten Tag nach Kaschgar kommen, wo es für Westler geeignete Geldautomaten geben soll.

Viele Häuser sahen diesem hier recht ähnlich – wir vermuten, dass sie von der Regierung gebaut wurden.

Außerdem merken wir, dass der Staat offensichtlich Angst hat: wir werden auf den 110 Kilometern von der Immigration nach Kaschgar sage und schreibe sechs mal kontrolliert. An den unmöglichsten Stellen stehen Straßensperren, die unsere Ausweise sehen wollen. Die Registrierung dauert jedes mal zwischen 5 und 40 Minuten und kostet vor allem Jonas teilweise die Geduld: Bei der Einbürgerung wurde unser Gesicht gescannt, an jeder Straßenecke stehen Kameras, wahrscheinlich trackt uns die Regierung eh durch unsere chinesische Sim-Karte und dann muss an jeder Kontrolle unser Name und die Pass- und Visanummer händisch von einer nicht des Englischen mächtigen Sicherheitskraft auf ein Stück Papier abgeschrieben werden? Ehrlich? Wenigstens sind die Beamten freundlich zu uns. Wir versuchen es auch mit Freundlich- beziehungsweise Gleichgültigkeit, obwohl wir uns teilweise stark diskriminiert fühlen (Einheimische kommen in 10 s durch die Kontrollen).

Eine Polizeistation – in Chinesisch und Arabisch angeschrieben!

Kaschgar – unsere erste chinesische Großstadt

Nach der letzten sind wir dann endlich in Kaschgar und finden eine etwas künstlich restaurierte Stadt vor. Vor einigen Jahren hat die Regierung nämlich den alten, von einer uigurischen muslimischen Minderheit bewohnten Stadtkern fast komplett plattgewalzt und „erdbebensichere“ mehrstöckige Gebäude hingebaut, obwohl (oder gerade weil?) die Stadt das kulturelle Zentrum dieses Volkes in China ist. Was wir also sehen, sind im Wesentlichen Hochhäuser shanghaier Architektur und eine Altstadt, die wahrscheinlich auch von einem shanghaier Architekten geplant wurde.

Super authentisch restaurierte Gebäude.

Zwar leben Uiguren dort und gehen touristisch ansprechendem Kunsthandwerk nach, aber wirklich alt oder seidenstraßig schaut es nicht mehr aus. Und auch dort ist die Polizeipräsenz nicht zu übersehen. Zugangskontrollen, Röntgengeräte und patroullierende Truppenwagen überall. Es ist eine Hochsicherheits-Altstadt – man kann keinen Laden betreten, ohne sein Gepäck durchleuchten zu lassen.

Die Machthaber scheinen sich zu fürchten. Die kulturellen und auch ideologischen Differenzen mit der Regierung haben ja nicht nur der hier ansässigen, sondern auch anderen Minderheiten (z.B. den Tibetern) ihre Freiheit gekostet. Und so stecken laut offiziellen Angabe über 1,5 Mio.(!) Uiguren in „Umerziehungslagern“.

Die einzige Moschee, die wir in Kaschgar finden.
Dieses Bild spiegelt die gefühlte Situation in Xinjiang recht genau wider.

Auch, weil wir den ständigen Kontrollen entgehen wollen, buchen wir uns ein Zugticket, dass uns aus dieser Region hinein in das innere China bringt: Xi’an, die jahrtausendelange Kaiserstadt und Endpunkt unserer Route an der Seidenstraße. Der beschwerliche Weg führt uns in 48 Stunden durch Wüsten, Canyons und typisch ostasiatische Bergformationen. Gebucht haben wir die günstigste Sitzplatzklasse und müssen die zwei Tage dank der chinesischen Unterhaltungslautstärke fast durchgehend Gehörschutz tragen. Die Sitze sind auf Dauer recht unbequem, und so wird vor allem die zweite Nacht zur Nervenprobe, in die deren Verlauf Sina irgendwann auf dem Boden unter den Sitzen schläft. Am nächsten Tag ist die Stimmung wegen Schlaf- und Essensmangel ziemlich am Boden und Sina wünscht sich die Heimat zurück. Aber was soll man machen? Steckst nicht drin. Ein schwieriger Start in China.

(Ein schwieriger Start, aber eine schöne Teekanne)